„… der Fasching muß eben manches entschuldigen.“

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Natürlich, liebe Leserin, lieber Leser, heißt es am Mittelrhein Karneval. Klar. Aber der Karneval wird seinerseits manches zu entschuldigen wissen, auch, dass es anderswo eben Fasching heißt; nicht dagegen, dass man einfach mal so, weil es eben passt, falsch zitiert – in München, und da stammt die durchaus treffende Allerweltsweisheit her, spricht man eben von Fasching. Wichtiger: Ganz sicher bei niemandem werden wir uns dafür zu entschuldigen haben, dass wir (nach mittlerweile fünf Jahren mühevoller wie ergiebiger, lehrreicher und nicht selten erheiternder lexikalischer Schufterei) es tatsächlich geschafft haben, just am 11.11. (so gegen 11 Uhr 11 schätzungsweise – mit Akademikerviertel vielleicht auch erst 11 Uhr 26) den 1111. Artikel einzustellen. Pünktlich also, wie es sich – pardon – in Preußen gehört, wie es aber auch in nichtpreußischen Karnevalshochburgen üblich ist. Geplant war diese denkwürdige Punktlandung nicht, doch mit Blick auf unsere durchschnittliche Schlagzahl konnte man seit ein paar Wochen davon ausgehen, dass dieser Joke tatsächlich gelingen könnte – ein Späßchen am Rande, nicht mehr und nicht weniger. Aber auch die Bestätigung dafür, was ein eingespieltes Team auf der Grundlage nicht nachlassender wissenschaftlicher Neugier zu leisten vermag, und dies auch angesichts mancher Unwägbarkeiten und einer sehr überschaubaren Zahl von Personen, die, und zwar verlässlich wie pünktlich, mit Herz und Hand dabei sind. Man kommt ins Nachdenken: Glücklicherweise müssen wir uns nicht mit um sich selbst kreisenden bürokratischen und administrativen Maßnahmen herumschlagen; ebenso glücklicherweise machen solche Zeitgenossen uns das Leben nicht schwer, die mit unserem Ansatz nichts anfangen können – die Fronten sind geklärt, und das erleichtert die Arbeit. Freilich ist man manchmal nah dran, sich schamhaft zu entschuldigen – wenn man etwa (nun ja – als Wissenschaftler eben) angesichts der Aufführung einer kleinen Komposition aus der Feder eines mittelrheinischen Komponisten gefragt wird, wieso ein anderer (nicht unbekannter) Musikwissenschaftler darauf gekommen ist, just dieses klingende Kleinod als „unbedeutendes Salonstück“ abzutun (wirklich passiert – allerdings nicht am Mittelrhein). Nur gut, dass der Kollege bisher noch keine Zeit gefunden hat, uns mit einem Artikel zu erfreuen, der unter Aufbietung des üblichen modischen Wortgeklingels aus dem quellenfreien Raum gefischt wurde. Aber genug davon.

Unser Mann des Tages und der Minute heißt Hermann Noetzel. Klar, der Noetzel, werden Schlaumeier*innen mit coolem und erprobtem Kennerblick sagen; das war doch der … – Nein, die Nummer zieht bei uns nicht. Bis wir ihn „ausgegraben“ haben, war er vergessen, ebenso wie die meisten der über 30 musikalisch-schöpferisch tätig gewesenen (temporären) Karnevalisten, denen wir auch schon früher ein kleines Denkmal gesetzt haben. Irgendwie lag der Noetzel gerade zufällig oben auf dem Stapel und erwies sich als geeignet: Nicht nur, dass er eine komische (!) Oper komponiert hat, die (selten genug, sowas) sich fast zwei Jahrzehnte lang hielt und über mehr als 20 Bühnen ging; nicht nur, dass er in seinem kleinen Klavierzyklus Bunte Skizzen ein Stückchen Hans Wurst und ein anderes Faschingslaune nannte; und abgesehen davon, dass er eine Orchestersuite Aus dem Leben eines Pierrot komponierte, eine Ouvertüre mit dem Titel Fasching (s. o.!!!) und eine Ballettpantomime Pierrots Sommernacht – er tat etwas, das das närrische Tun auf seinen Ursprung zurückführt: Es war im Januar 1932, als er mahnend, deutlich und mutig Finger wie Stimme erhob, nachdem er wohl täglich in seinem Wohnort nahe München mit den alles andere als lustigen (Vor-) Zeichen seiner und der kommenden Zeit konfrontiert worden war. In einem Leserbrief schrieb er von der „gegenwärtigen leidenschaftlichen Verwirrung der Köpfe“, von „infamer Anbiederung mit den Faschisten“, schließlich davon, dass „Hitler selber von einem blendenden Dämon besessen“ sei (Der Südtiroler, Innsbruck, 15. Jan. 1932). Chapeau, lieber Noetzel, Chapeau!

Übrigens waren auch ein paar andere Leute nah dran, auf den Sockel Nr. 1111 gehievt zu werden; klar – wir hätten das öffentlich ausdiskutieren sollen und bitten alle diejenigen um Vergebung, die gerne nach leidenschaftlichem und kräftezehrendem Meinungsaustausch mitentschieden hätten. Vielleicht wären manche für Mina Lust gewesen (nein, natürlich nicht wegen des Namens; darüber lacht man nicht!), die einen Frankfurter-Wiesbader Eisenbahn-Actien-Galopp und zwei Walzer zu nämlicher Thematik schuf. Da ihre Werke offenbar die Zeiten nicht überdauert haben, braucht sich niemand zu bemühen, die Komponistin einer Würdigung zu unterziehen – ihr Artikel erhielt die Nr. 1106. Joseph Henrich, der einen Ichthyosaurus und dessen jammervolles Schicksal besang, folgte – „komischer Humor“, mag man urteilen, aber vielleicht werden die bereits in Aussicht gestellten paläontologischen Gutachten zum inzwischen digitalisierten Text Joseph Victor von Scheffels wie auch zur möglichen Subtilität resp. Immersivität der musikalischen Umsetzung Aufsehen nicht nur in der Fachwelt erregen. Der Orgelbauer Johann Jelaćić (Nr. 1108), dem die spärliche Literatur bisher nachsagte, er sei sturzbesoffen in einer Schneewehe zu Tode gekommen, hat nun durch unsere Recherchen endlich einen genauen Todestag erhalten, der aufgrund der Jahreszeit und der um Pfingsten herum zu unterstellenden mutmaßlichen Wetterlage das bisherige Geschichtsbild ins Wanken bringt. Wieder ein genial gescheiterter Künstler weniger; was ein Jammer. Die entstandene Lücke mag in gewisser Weise Helene von Dobeneck füllen, die sich, obwohl erst kurz zuvor verehelicht, nach dessen Frankfurter Konzerten unsterblich in Paganini verliebte, ihn gar zu heiraten beabsichtigte, aber abgewiesen wurde. Natürlich ist das nicht lustig, aber Fälle von Geschmacksverirrung kommen eben vor und verdienen unseren ganzen Respekt – s. Art. 1109. Auch an sich nicht sonderlich lustig ist die Lebensgeschichte von Gustav Huppert; nur deshalb haben wir ihm die Nr. 1110 zugeteilt, weil er sich der Ehre vollkommen unwürdig erwies, die Nr. 1111 zu tragen: Huppert hängte seinen Lehrer- und Musikerberuf an den Nagel und widmete sich fortan der „Fabrikation und dem Vertrieb alkoholfreier Getränke“.

Ach ja – das Zitat: Es stammt aus der Feder eines Münchner Musikkritikers, der Einiges zu mäkeln hatte an Hermann Noetzels Pierrot-Suite und sich wie den Komponisten mit den in der Überschrift zitierten Worten zu entschuldigen wusste (Allgemeine Zeitung, München, 1. Febr. 1905). Nun ja – die Geschmäcker sind verschieden, sollen sie auch. Dagegen gibt es nur eine Wahrheit. Auch am 11.11.

A.B.

MMM2 Update Okt23

Neue Artikel: Diesterweg (Familie) | Philipp Wilhelm Eichenberg | Wilhelm Göbel | Joseph Henrich | Johann Jelaćić | Mina Lust | Friedrich Reiff | Johann Nikolaus Schäfer | Franz Strigl | August Thomae

Das MMM2-Team wünscht seinen Leserinnen und Lesern viel Vergnügen und schöne Herbsttage.

Ausschnitt aus Joseph Panny: Favoritwalzer über Der Herbst am Rhein, Mainz: Schott [1833]